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Der oreloB und die etnueN

Text von: Winfried Dulisch

Jürgen Klinsmann trug am 14. November 1987 noch das Trikot des VfB Stuttgart. In der 18. Minute der Bundesliga-Partie gegen den FC Bayern (Endstand: 3:0) erreichte ihn eine über das halbe Spielfeld geschossene Flanke. Kurz entschlossen riskierte er einen Fallrückzieher und erzielte das 1:0.

„Toooooooooorrrrr!!!“

60000 VfB-Fans brüllten sich die Seele aus dem Leib und trieben damit später die Besitzer von hochwertigen HiFi-Anlagen zur Verzweiflung. Denn der Tonmeister Andreas Spreer hat dieses Ereignis, das von den Fans der ARD-Sportschau später zum „Tor des Jahres 1987“ gekürt wurde, mit seinem Digital-Aufnahmegerät Sony PCM F1 und zwei Mikrofonen Schoeps MK2 dokumentiert.

„Toooooooooorrrrr!!!“

60000 VfB-Fans brüllten sich die Seele aus dem Leib und trieben damit später die Besitzer von hochwertigen HiFi-Anlagen zur Verzweiflung. Denn der Tonmeister Andreas Spreer hat dieses Ereignis, das von den Fans der ARD-Sportschau später zum „Tor des Jahres 1987“ gekürt wurde, mit seinem Digital-Aufnahmegerät Sony PCM F1 und zwei Mikrofonen Schoeps MK2 dokumentiert.

„Das war ein irres Geräusch“, erinnert sich Andreas Spreer. „Es beeindruckte alle Sinne – nicht nur die Ohren. Ich stand mit hundert Sportjournalisten hinter dem Bayern-Tor und wollte die Stadion-Atmosphäre für eine Test-CD aufnehmen.“

Damals arbeitete Andreas Spreer noch vor allem als Kammermusik-Tonmeister und -Produzent für das Label „Intercord“. Am 2. April 1989 gründete er sein eigenes Label: Tacet. „Meine Frau hatte mir empfohlen, den offiziellen Start um einen Tag zu verschieben. Wegen einiger ungewöhnlicher Projekte, die ich auf Tacet verwirklichen wollte, hatte sie befürchtet, dass die Branche meine Label-Gründung für einen Aprilscherz halten könnte.“

Andreas Spreer war bereits bekannt als ein Plattenmacher, der eine „Platte“ nie als bloßen Ersatz für Live-Darbietungen akzeptieren wollte. „Ich habe jede Art von Tonträger als künstlerisches Medium mit jeweils eigenen besonderen Möglichkeiten und Beschränkungen betrachtet. Mehr denn je kommt es für mich heute bei einer Platten-Produktion darauf an, Kompositionen und Interpretationen auf eine jeweils besondere, aber sinnvolle Art zu inszenieren – und zwar so, wie es in einem Konzert nicht möglich ist. Dafür muss ich die Künstler unterstützen. Ich muss sie herausfordern. Ich muss ihnen bewusst machen, wo die Unterschiede zwischen einer Konzertbühne und der Arbeit vor Aufnahme-Mikrofonen liegt.“

Ausgerechnet bei seinem spektakulärsten Coup begnügte sich Andreas Spreer im Frühjahr 2012 mit einer schlichten Regieanweisung: „Sehr verehrte Damen! Sehr verehrte Herren. Ich weiß nicht, ob diese Platte jemals ein großer Verkaufserfolg sein wird. Aber ich kann Ihnen versprechen, sie wird berühmt. Spielen Sie also, was das Zeugs hält!“

Zu diesem Zeitpunkt wussten die Mitglieder des Netherland Philharmonic Orchestra und ihr Dirigent Carlo Rizzi nicht, dass auf dem LP-Cover ihrer Einspielung des Ravel-„Bolero“ einmal dieser Hinweis stehen würde: play backwards. Die Vinyl-Pressung dieser Aufnahme aus dem Gebäude der ehemaligen Börse von Amsterdam muss also rückwärts abgespielt werden. Entsprechend lautet auch der Titel dieses Tacet-Albums: oreloB.

Der Rückwärts-Effekt ist hörbar. Andreas Spreer: „Jeder Musikfreund hat schon mal eine Vinylscheibe mit dieser Komposition gehört. Doch kaum jemand macht sich die audiotechnische Herausforderung bewusst. Das Werk beginnt sehr leise und steigert sich zu einem dynamisch gewaltigen Fortissimo – und ausgerechnet in dieser physikalisch anspruchsvollen Situation steht nur noch der eingeschränkte Spielraum im inneren Bereich einer Vinylscheibe zur Verfügung. Genau hier entstehen beim Abtasten mit einem Tonarm die intensivsten Verzerrungen, heftige Ausschläge können die Nadel aus der Rille werfen. Gleichzeitig verringert sich die Abtastfähigkeit. Die leisen Eröffnungstakte dagegen sind im inneren Teil der Platte gut aufgehoben.“

Eine ähnliche Lautstärke-Steigerung forderte Maurice Ravel auch für „La Valse“. Andreas Spreer: „Für das Fortissimo-Finale dieses Zwölf-Minuten-Werks wollte ich ebenfalls das Dynamik-Potenzial ausschöpfen, das in der äußeren Region einer Vinylscheibe steckt. Deswegen habe ich unsere Amsterdamer Einspielung als Revers-Version auf die Rückseite der Bolero-LP pressen lassen.“

Damit sich der schwindelerregende Ravel-Walzer und -Bolero höchst befriedigend auf ihre Höhepunkte zubewegen können, rief Andreas Spreer die Frankfurter Firma Schallplatten Schneid Technik (SST) an. Dort arbeitet Daniel Krieger. Andreas Spreer schwärmt von diesem Fachmann für Inside-Out-Cut (Rückwärts-Schnitt) und andere spezielle Schnitt-Methoden: „Daniel Krieger hat über die Grundlagen der Schallplatten-Herstellung sehr viel Wissen bewahrt, das inzwischen verloren gegangen ist. Viele Kenntnisse werden bei der Herstellung von Digital-Tonträgern auch nicht mehr benötigt. Denn was von den Technikern im Digitalaufnahme-Studio für gut befunden wird, landet später eins zu eins umgesetzt auf der CD oder SACD oder einem anderen Digital-Tonträger. Die Fachleute für die einzelnen Zwischenstufen, die für das Herstellen eines Analog-Tonträgers nötig sind, gehen zunehmend verloren. Dabei können Leute wie Daniel Krieger manchmal mit nur winzigen Eingriffen dafür sorgen, dass eine Vinylscheibe noch besser klingt.“

Andreas Spreer produzierte 1981 seinen ersten Tonträger. „Die CD kam erst 1982. Ich habe mein Handwerk also noch im Analog-Zeitalter gelernt. Einige Leute, die heute Vinyl produzieren, haben keinen Bezug zu diesen Grundlagen und der Tradition des Tonträger-Herstellens mehr. Wenn sie sich die Probepressungen ihrer LPs anhören, wundern sie sich darüber, warum es nicht wie das Original aus dem Digital-Aufnahmestudio klingt. Das Gespür für die Besonderheiten des Analog-Tonträgers droht verloren zu gehen.“

Trotz oder gerade wegen seiner jahrzehntelangen Erfahrung verlässt sich Andreas Spreer bei einigen technischen Fragen lieber auf einen Fachmann – so wie ein Schiffskapitän ab und zu einen Lotsen benötigt. Der Tacet-Chef erinnert sich an die Zusammenarbeit mit dem Schneidetechnik-Spezialisten: „Als wir die ersten Musterpressungen der Ravel-Scheibe aus dem Vinyl-Presswerk gehört hatten, schlug Daniel Krieger noch kleine Verbesserungen vor. Er kann zum Beispiel abschätzen, ob beim Pegel noch Luft nach oben ist. Denn der Lautstärkepegel wie auch der Rillenvorschub entscheiden darüber, wie viel Raum auf der Schneidefolie für die Musik zur Verfügung steht. Wir mussten beim Schneiden der Folie auch berücksichtigen, dass die Musik nicht allzu weit innen beginnen darf, weil sonst die automatische Endabschaltung der meisten Plattenspieler aktiviert würde. Dank der Erfahrung eines Daniel Krieger beginnen der Bolero und der Walzer jeweils an einer Stelle, die bei keinem der gebräuchlichen Automatik-Plattenspieler Schwierigkeiten bereiten könnte.“

Mussten die Macher des Projekts „oreloB“ anschließend auf weitere Besonderheiten achten? – Andreas Spreer: „Nach dem Schneiden der Lackfolie war die technische Arbeit von Daniel Krieger und mir beendet. Wir schickten die Folie an das Pallas-Presswerk in Diepholz, dort wurde sie in der Galvanik-Abteilung für die Pressung aufbereitet. Einer Maschine im Vinyl-Presswerk ist es egal, ob sie eine vorwärts oder rückwärts geschnittene Scheibe pressen soll. Die Fertigungsqualität wird immer gleich hoch sein. Aber ich weiß, dass im Pallas-Presswerk in Diepholz noch Leute arbeiten, die von solchen Abenteuern wie unseren Revers-LPs fasziniert sind. Und obwohl sich das eigentlich auf die Pressqualität nicht hörbar auswirkt, geben sie sich – ähnlich wie auch die Musiker – bei dem Fertigen von solch einem technischen Leckerbissen vielleicht noch einen kleinen Tick mehr Mühe.“

Nachdem sein erstes Ravel-Vinyl in der audiophilen Szene für positives Aufsehen gesorgt hatte, ließ er eine weitere Aufnahme mit dem Netherlands Philharmonic Orchestra rückwärts in Lackfolie schneiden: Ma mère l'Oye. Bei dieser Orchesterfassung einer Klavier-Suite von Maurice Ravel erklingen die lautesten Passagen ebenfalls am Ende des Finalsatzes. Die Revers-Abtastung bewährt sich hervorragend auch für dieses opulente Opus.

In den Ravel-Produktionen konnte Andreas Spreer einige Erfahrungen verwerten, die er bei den Aufnahmen der neun Beethoven-Sinfonien mit dem Polish Chamber Philharmonic Orchestra gesammelt hatte. Dieses Zehnjahres-Projekt wurde 2016 abgeschlossen. Allerbeste Tanzlaune und hintersinniger Humor wechseln sich in dieser Gesamteinspielung ab mit elegant ausformulierten Details, kraftvoll energische Momente begegnen zarter Empfindsamkeit.

Tacet veröffentlichte die Sinfonien erst einmal auf SACD, DVD-Audio und Blu-ray-Audio. Zum krönenden Abschluss legte Andreas Spreer ein analoges Doppel-Album mit Beethovens Neunter als weiterem Beweisstück für den dynamischen Zugewinn beim „play backwards!“ vor. „Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich dafür, die ersten drei Sätze ganz normal auf jeweils eine LP-Seite pressen zu lassen. Das Finale mit dem dynamisch anspruchsvollen Schlusschor allerdings würde bei einer normalen Abtastung im Innenbereich der Platte liegen. Dort hätten wir – wie bei den bereits erwähnten Ravel-Beispielen – keinen ausreichenden Raum zur Entfaltung des Dynamik-Umfangs. Also haben wir die Seite vier des Doppel-Albums für eine Revers-Abtastung schneiden und pressen lassen. Damit können sich das dynamische Spektrum und die übrigen Feinheiten dieser Aufnahme weitaus besser entfalten.“

Also lief der Schneidestichel für den letzten Satz der Beethoven-Sinfonien von innen nach außen – wie zuvor schon beim Schneiden der Folie für die zwei Tacet-LPs mit den Ravel-Einspielungen. Deshalb muss bei dieser Plattenseite die Nadel nicht am Außenrand des Vinyls aufgesetzt werden, sondern direkt neben dem Label. Die Auslaufrille liegt hier außen statt innen. Trotzdem kann die Nadel nicht über den äußeren Rand der Scheibe hinaus rutschen – ebenso wenig wie sie bei einer vorwärts laufenden LP im Loch in der Mitte der Platte verschwinden kann.

Obwohl sich das Revers-Verfahren dank seiner klanglichen Mehrausbeute inzwischen bewährt hat, bekommt Andreas Spreer immer noch Anfragen von besorgten Musikfreunden: Kann mein Tonabnehmer einen rückwärts laufenden Bolero oder Beethoven wirklich korrekt abtasten? Schadet das nicht der Nadel oder dem Motor? – Der Tacet-Chef kann beruhigen: „Jürgen Klinsmann hatte das 1:0 gegen die Bayern auch mit einem eigentlich unmöglichen Fallrückzieher geschossen. Und es wurde sogar das Tor des Jahres.“


Andreas Spreer über seine Tonträger-Edition „TACET's Beethoven Symphonies“:

Die ersten acht Beethoven-Sinfonien hatten wir in einer Kirche im polnischen Ostsee-Badeort Sopot aufgenommen. Für die Neunte wird ein größerer Aufnahmeraum benötigt, damit sich der klangliche Reichtum dieser Komposition entfalten kann. Also gingen wir mit dem Polish Chamber Philharmonic Orchestra, dem Chor und den Solisten in die Danziger Johanneskirche.

Wir konnten auch tagsüber ungestört arbeiten. Die Johanneskirche liegt in der Danziger Altstadt, wo kaum Autos fahren. Allerdings mussten wir einige andere Geräuschquellen in und an der Kirche lokalisieren und abstellen.

Die Kirche gibt wegen ihrer Höhe einen enormen Nachhall zurück, deshalb mussten einige Sitzreihen mit Stoffbahnen überdeckt werden. Anschließend verlegten wir 150 Meter Glasfaserkabel bis zum Regieraum und wieder zurück. Wenn man zu diesen 300 Metern die Verbindungen zwischen den ein- zelnen MADI-Geräten (Multichannel Audio Digital Interface – digitale Schnittstelle zur Mehrkanal-Audioübertragung) die Mikrofon- und Netzkabel hinzurechnet, kommt man locker auf einen Kilometer.

Mein Tonmeister-Kollege Toms Spogis und ich benötigten über acht Stunden, um alle Geräte aufzustellen – darunter viele Röhrenmikrofone mit jeweils eigenem Netzteil. Die Klangprobe mit allen Sängern und Musikern ging schnell über die Bühne, diese hoch bezahlten Profis beherrschen ihr Handwerk. Wir hatten zwei Hauptmikros aufgestellt und vier weitere im Raum verteilt. Jeweils ein Mikro bekamen die vier Gesangs-Solisten. Die Holzbläser, die Streicher und der Chor bekamen jeweils sechs, das Blech neun, die Schlaginstrumente drei Mikros.

Als Aufnahmegeräte verwendeten wir fünf RME-Audio Micstasy (jeweils acht Spuren). Wir hörten die Aufnahmen über die Lautsprecher 1022 A von Genelec ab. Die Kopfhörer kamen von Stax, die Kopfhörerverstärker von Lehmann. Diese gesamte Technik wog ungefähr 600 kg.

Die Blu-ray wurde gemastert von der TACET-Mitarbeiterin Karin Koellner. Im Karlsruher Mastering-Studio 24-96 masterte Robin Schmidt die SACD-Version.

Bei zwei von den drei vorwärts geschnittenen LP-Seiten stellte uns bereits die erste Lackfolie zufrieden, jedoch für eine davon benötigten wir drei Versuche. Dass wir für die Revers-Seite nur zwei Lackfolien anfertigen mussten, hat sogar uns überrascht.